| 1758,
mitten im Siebenjährigen Krieg. Bauernsohn Jean muss seine Familie verlassen, um als Bursche in den Dienst von
Leutnant Philippe de Belsace zu treten. Bald sind sie sich mehr als Herr und Diener. 
 Karfreitag(…) Jean bemerkte die Ruhe ringsum. Die Rue du Vicomte war für gewöhnlich eine sehr belebte Straße. Heute jedoch
  war dort unten nichts zu hören, weder Reiter noch Fuhrwerke, auch nicht das übliche Stimmengewirr, das sonst die Luft erfüllte. Jean
  warf einen Blick aus dem Fenster. Kaum ein Mensch war zu sehen.
 Als der Leutnant zurückkam, war er sehr ernst und in sich gekehrt. Nach
  dem Mittag machten sie sich auf den Weg zur Messe. Wieder fiel Jean die Ruhe in der Stadt auf. Selbst die Glocken schwiegen und ebenso
  die Orgel, die Jean inzwischen liebte wie kein anderes Instrument.
  Dem Jungen wurde allmählich bang ums Herz, während er sich in der
  Kirche umsah und all die betrübt dreinblickenden Menschen in ihrer
  schwarzen Trauerkleidung betrachtete. Was mochte das alles bedeuten,
  die ernste Feierlichkeit, diese in sich gekehrte Ruhe?
 Nach der Messe machten sein Herr und er sich
  zu einem Spaziergang durch die Wiesen außerhalb der Stadt auf. Die
  Luft war mild wie bei ihrem ersten Spaziergang. Aber die fröhliche
  Unbeschwertheit, die Jean damals verspürt hatte, wollte sich diesmal
  nicht einstellen. Ob es am Karfreitag lag?Zaghaft sprach er
  seinen Herrn darauf an und erntete eine Gegenfrage: »Du weißt, welche
  Bedeutung der Karfreitag hat?«
 Jean war sich nicht sicher und
  machte eine vage Handbewegung.
 »An diesem Tag ist unser Erlöser
  für uns am Kreuz gestorben, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen.«
  Jean nickte, das wusste er bereits. Warum aber waren heute alle
  Leute so ernst? Wenn Jesus gestorben war, um die Sünden der Menschen
  auf sich zu nehmen, so konnten doch die Menschen froh über sein
  Opfer sein, oder etwa nicht?
 Der Leutnant setzte eine bedeutungsvolle
  Miene auf. »Nein, Jean, so einfach ist es eben nicht.« Der Junge
  sah ihn fragend an. »Warum denn nicht?« »Weil wir alle Sünder sind
  und es auch bleiben.«
 Jean runzelte die Stirn.
 »Wir alle laden
  täglich Schuld auf uns«, fuhr sein Herr fort, »für die wir Buße
  tun müssen. Deswegen gehen wir zur Beichte und beten für die Vergebung
  unserer Sünden. Der Karfreitag ist für uns Katholiken der Tag, an
  dem wir unserer Schuld gedenken.«
 Jean starrte ihn an und versuchte
  sich zu erinnern, was sein Herr in der letzten Zeit Furchtbares
  getan haben könnte, dass er damit Schuld auf sich geladen hätte
  und für die Vergebung beten müsste.
 Der Leutnant lächelte ihn
  schmerzlich an und nahm ihn bei der Schulter. »Ach, Jean, so einfach
  ist es nicht. Das verstehst du, glaube ich, noch nicht. Du bist
  ja noch ein Kind. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns öfter über
  Fragen der Religion unterhalten und uns um deine Erziehung zum rechten
  Glauben kümmern.« Mit dieser Antwort konnte Jean jedoch wenig anfangen.
  Er beschloss, über die Bedeutung des Karfreitags nicht weiter nachzugrübeln.
  Reiten lernen war schließlich viel wichtiger.
 Beim Abendessen sagte der Leutnant zu ihm:
  »Wenn du nachher noch einmal in den Stall gehst, dann lass mich
  bitte für eine Stunde hier allein.« »Selbstverständlich, Monsieur.«
  Jean ahnte, dass er in aller Stille beten wollte.»Bis um acht
  Uhr.«
 Jean nickte. Er schichtete Holz im Kamin auf, damit es
  lange genug vorhalten würde, und ging hinunter in den Stall.
 Bald
  darauf kniete sein Herr vor dem Bett, nur mit dem Hemd bekleidet,
  und faltete die Hände zum Gebet. Sein Blick richtete sich auf das
  Kruzifix an der Wand. Doch als er zu beten begann, verschwamm das
  Bild des Gekreuzigten vor seinen Augen, und andere Bilder traten
  aus seiner Erinnerung hervor. Er schloss die Augen.
 »Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae semper Virgini, beato Michaeli Arcangelo, beato Johanni Baptistae,
  sanctis Apostolis Petro et Paulo, omnibus Sanctis1.«
  Der leise Singsang seiner Stimme trug ihn davon, auf den Flügeln
  der Erinnerung.»Quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere.«
  Bilder aus der Schlacht zogen an ihm vorüber. Er sah preußische
  Soldaten, die unter den Hufen seines Pferdes den Tod fanden. Er
  schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Mea culpa, mea culpa,
  mea maxima culpa.«
 Das Bild der Schlacht verging, und ein anderes
  trat an seine Stelle. Er kniete auf dem Waldboden, der von buntem
  Herbstlaub bedeckt war. In seinen Händen hielt er den Kopf eines
  grauhaarigen Mannes im Jagdrock, und an seinen Händen war Blut,
  das Blut des Mannes, der in seinen Armen starb.
 »Ideo precor
  beatam Mariam semper Virginem, beatum Michaelem Arcangelum, beatum
  Johannem Baptistam, sanctos Apostolos Petrum et Paulum, omnes Sanctos.«
  Seine rechte Faust lag noch auf seiner Brust. »Orare pro me ad Dominum
  Deum nostrum.«
 Als nächstes betete er das Vaterunser. Danach
  begann er von Neuem, und das Gesicht des Sterbenden begleitete ihn,
  wie es ihn stets begleitete. »Mea maxima culpa.« Doch er wusste,
  er konnte die Jungfrau Maria und alle Heiligen noch so sehr anflehen,
  für ihn zu beten. Es würde keine Vergebung für ihn geben.
 Als Jean die Turmuhr achtmal schlagen hörte,
  glitt er von Zazous Futterkrippe herunter, schloss leise die Stalltür
  und ging nach oben. Auf sein Klopfen kam keine Antwort. Vorsichtig
  schlüpfte er ins Zimmer. Sein Herr stand am Fenster und sah hinaus
  auf die Rue du Vicomte, wieder in seinem schwarzen Anzug.So
  leise wie möglich machte sich Jean daran, das Feuer im Kamin anzufachen.
  Als der Leutnant ihn dort hantieren hörte, drehte er sich um und
  kehrte aus seiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit zurück.
 Jean
  sah ihm ins Gesicht und erschrak. Er hatte Leid und Schmerz in seinen
  Augen gesehen, als ihm sein Herr von der Schlacht bei Roßbach erzählt
  hatte. Doch das war kein Vergleich gewesen zu dem Kummer, der jetzt
  darin stand. Er erhob sich und ging zu ihm hinüber.
 »Monsieur!«,
  sagte er leise und ergriff seine Hände. Wenn er doch nur wüsste,
  was seinen Herrn so bedrückte, wenn er ihm helfen könnte, diese
  düstere Stimmung abzulegen!
 Der Leutnant schloss die Augen, entzog
  sich Jeans Händen und wandte sich ab. Hilflos blickte ihm der Junge
  auf den Rücken und versuchte zu verstehen, was in seinem Herrn vorging.
  Der Leutnant aber starrte hinaus in die zunehmende Dunkelheit.
 Für
  mich gibt es keine Vergebung. Meine Schuld kann nicht gesühnt werden.
 Jean
  verstand nun, dass der Karfreitag für seinen Herrn nicht nur der
  Tag war, den Tod Jesu Christi zu beweinen. Der Leutnant trug etwas
  mit sich, das ihm das Herz verdunkelte, wenn Jean auch nicht zu
  sagen wusste, was.
 Aber wo Schatten war, da war auch Licht. Jean
  erfuhr dies in der Osternacht während der Mitternachtsmesse. Wieder
  war er mit seinem Herrn zur Kathedrale von Saint-Germain gegangen,
  diesmal mit einer Laterne in der Hand, und wieder blieb er in der
  hintersten Reihe stehen, während der Leutnant nach vorn ging. Doch
  diese Messfeier, das spürte Jean, würde anders werden als alle,
  die er jemals erlebt hatte.Es war fast vollkommen dunkel in
  der riesigen Kirche. Der Leutnant hatte zwei Kerzen mitgenommen
  und Jean eine davon gegeben. Obwohl die Kirche voller Menschen war,
  herrschte Totenstille, und die andächtige Spannung war beinahe mit
  den Händen zu greifen.
 Schließlich wurden die Türen geschlossen.
  In dem riesigen Kirchenschiff schien es noch leiser zu werden. Jean
  dachte an seinen Herrn, der allein dort vorne stand und einen schweren
  Kummer im Herzen trug. Es behagte ihm gar nicht, dass er ihm in
  dieser bedrückten Stimmung nicht beistehen konnte.
 Da öffneten
  sich plötzlich die Flügel des Hauptportals hinter ihm. Jean warf
  einen Blick über die Schulter. Im flackernden Schein einer einzelnen
  großen Kerze sah er eine Prozession hereinkommen, den Priester,
  die Messdiener und Ministranten. Unter feierlichen Gesängen bewegte
  sich der Zug zum Altar. Das Licht der Kerze schien Jean sehr klein
  in dem riesigen Kirchenbau. Dennoch wirkte die Szene sehr tröstlich.
  Immerhin, es war ein Licht, ein einzelnes Licht in der Dunkelheit,
  das tapfer strahlte und den Menschen in der Kirche Helligkeit versprach.
 Vorne
  in der ersten Reihe entzündete jemand seine Kerze an diesem Licht
  und dann damit die nächste Kerze. Jean beobachtete, wie das Leuchten
  von einem zum anderen und von Reihe zu Reihe wanderte. Allmählich
  wurde es hell dort vorn und immer heller und noch heller. Als das
  Licht endlich bei ihm anlangte und er seine eigene Kerze am Talglicht
  seines Nachbarn entzündete, war das Kirchenschiff bereits vom Strahlen
  vieler Lichter erhellt, die die Gesichter der Menschen zum Leuchten
  brachten. Der Junge schaute auf die Flamme seiner Kerze. Sein Blick
  glitt über das Lichtermeer und hinauf zur bemalten Decke von Saint-Germain,
  die sich hoch über ihm wölbte.
 Da war sie, die Hoffnung, die
  Auferstehung, durch die das Licht in die Welt gekommen war! In einem
  einzigen Augenblick verstand Jean den Grundgedanken aller Christen:
  Du bist nicht verloren, und wenn auch noch so viel Dunkelheit um
  dich ist, so gibt es doch Hoffnung! Daheim in der kleinen Kirche
  von Tournai-dur-Dive hatte er das nie erfahren. Hier in der riesigen,
  hell erleuchteten Kathedrale aber bekam er eine Ahnung vom Wunder
  der Osternacht. Keine Schuld kann so groß sein, dachte er. Dieses
  Licht scheint in jedes Herz, und jeder Mensch wird erlöst.
 Später, auf dem Heimweg, trug er das Licht
  noch immer in seinem Herzen. Längst war seine Kerze heruntergebrannt.
  Aber sein Herz war voller Hoffnung und Glück. Tief bewegt sprach
  er sein Abendgebet. Danach verharrte er kurz. Sein Herr begann seinerseits
  zu beten. Als er geendet hatte, neigte er den Kopf vor dem Kruzifix
  und schickte sich an, ins Bett zu steigen. Jean fasste sich ein
  Herz. »Monsieur?«Der Leutnant verhielt einen Moment und schaute
  zu ihm. Jean stand auf und ging hinüber. »Monsieur, darf ich etwas
  sagen?« Noch immer waren seine Augen voller Leid. Hatte der Leutnant
  das Licht und die Hoffnung nicht gesehen? »Was denn, Jean?«
 Der
  Junge nahm seinen ganzen Mut zusammen.
 »Monsieur, Ihr tut so
  viel Gutes! Das zählt doch auch etwas. Wenn man Schuld auf sich
  geladen hat, dann ist das sicherlich schlimm. Aber wenn man Gutes
  tut, dann … Ich wollte sagen: Das Gute, das man tut, das ist doch
  auch wichtig. Das gibt uns Hoffnung, und –«
 Er brach ab. Sein
  Herr hatte den Kopf abgewandt. Eine lange Pause folgte. »Danke,
  Jean«, sagte der Leutnant schließlich, aber seine Stimme klang seltsam
  gepresst. Sehr leise zog sich der Junge zu seiner Decke am Kamin
  zurück. Er hatte das Gesicht seines Herrn nicht sehen können, wohl
  aber die bebenden Schultern.
 Ganz still lag er anschließend in seiner Decke
  vor dem Kamin. Trotz des Lichts, das er gesehen hatte, war er traurig.
  Sein Herr trug eine Last, und so sehr Jean sich auch bemühte, gelang
  es ihm doch nicht, ihm das Herz zu erleichtern. Es musste eine sehr
  schwere Last sein, die der Leutnant mit sich trug.Was ist es
  nur, das ihm den Glauben an die Hoffnung genommen hat, dachte Jean.
  Was kann so erdrückend sein, dass es das Licht erstickt und nur
  noch Dunkelheit zurücklässt?
 (…)
  1. (lat.) Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen,
der seligen, allzeit reinen Jungfrau Maria, dem heiligen Erzengel
Michael, dem heiligen Johannes dem Täufer, den heiligen Aposteln
Petrus und Paulus, allen Heiligen, dass ich Gutes unterlassen und
Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und
Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große
Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, den heiligen
Erzengel Michael, den heiligen Johannes den Täufer, die heiligen
Apostel Petrus und Paulus, alle Engel und Heiligen, für mich zu
beten zu Gott, unserm Herrn. Ausschnitt aus "Dragonerkind"von Karola Briese
 
 Mehr von dieser Autorin: Vita & Werke 
 | | Karola Briese |  
| 
 |  | Geboren und aufgewachsen in Berlin (West), lebt Karola Briese mit Mann und Katze am Rande des Nervenzusammenbruchs und
der Lüneburger Heide. Zum Schreiben kam sie erst spät und
eher durch Zufall. Sie schreibt überwiegend historische Belletristik und Sachbücher,
daneben auch Kurzgeschichten.
 Ihre Bücher signiert sie stilecht mit
Feder und Tinte, und wer Glück hat, erlebt sie einmal live bei einer Lesung – stimmgewaltig und im authentischen Kostüm des 18. Jahrhunderts. »Dragonerkind« ist ihr erstes Buch:
  
 Was geschieht mit dir, wenn du mit 12 Jahren deine Familie verlässt, dich bewähren musst,
in einer fremden Welt, einem fremden Land mit einer fremden Sprache? Mehr dazu:Vita
   & Werke
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