Der kleine Engel geht auf Lobreise
»Das ist gemein!« Der kleine Engel war sauer. Stinksauer sogar. »Das ist echt gemein, so richtig voll
obergemein!« »Was denn?«, fragte der kleine Stern und blinzelte mit den Augenlidern. »Na, hier!« Der kleine Engel
deutete auf den Stundenplan. »Singen und Jubilieren, immer nur Singen und Jubilieren, das geht mir echt voll auf die Ketten!« Er ballte die Fäuste. Am liebsten
hätte er mit dem Fuß aufgestampft. Aber das ging nicht, wegen der Wolken. »Was hast du denn gegen Singen und
Jubilieren?«, fragte der kleine Stern und hüpfte auf ein Wölkchen, um eine bessere Sicht auf den Stundenplan zu haben. Der kleine Engel zog eine Grimasse und
nuschelte: »Ja, ey, nix, Alter.« Das hatte er sich bei den kleinen Menschen abgeschaut, oder besser, abgehört. Das mit den
Ketten auch. »Eigentlich.« »Aha.« Der kleine Stern sah ihn an. »Und uneigentlich?« »Ich will endlich was Cooles
machen!«, platzte der kleine Engel heraus. »Immer dürfen das nur die Großen! Guck, da: Frohlocken und Lobreisen. Das will ich auch
endlich haben.« »Du willst Locken haben?« Der kleine Stern blinzelte ungläubig mit den Augenlidern. Der kleine Engel nickte. »Genau! Guck dir mal meine Frisur an:
Total uncool! Frohlocken sind doch viel cooler.« Auch dieses Wort hatte er sich von den kleinen Menschen abgehört. »Du willst also Locken haben und auf
Lobreise gehen?«, fragte der kleine Stern. Wieder nickte der kleine Engel. »Bingo!« Noch ein Wort von den
kleinen Menschen. »Außerdem hab’ ich dann endlich bei Gabriel Unterricht und nicht mehr bei Michael. Der ist immer so streng.« »Na, dann geh doch zu Petrus und frag
ihn, ob du in Gabriels Klasse gehen darfst«, schlug der kleine Stern vor. »Spinnst du?« Der kleine Engel
tippte sich an die Stirn. »Das macht der niemals! Du weißt doch, von wegen himmlische Ordnung und so. Nee, da muss ich schon selbst
für sorgen. Und ich weiß auch schon, wie. Wirst schon sehen.« Der kleine Stern wollte etwas erwidern, aber der kleine Engel hatte sich schon umgedreht und stapfte über
den Wolkenteppich davon. Zuerst, so sagte er sich, brauche ich Lockenwickler, am besten diese Dinger, die sich beheizen lassen, dann
geht es schneller. Wie man einem Kind einen Wunsch erfüllt, hatte er ja bereits gelernt. Nun würde er eben sich selbst einen Wunsch
erfüllen. Gesagt, getan. Es dauerte nicht lange und der kleine
Engel saß mit nassen Haaren vor einem großen Haufen von Lockenwicklern. Nun also ans Werk! Er griff sich in die Haare und
versuchte, eine Strähne abzuteilen. Aber das war gar nicht so einfach, denn der kleine Engel hatte ziemlich lange Haare, und die
waren beim Waschen und Trockenrubbeln ganz schön durcheinandergeraten. Was für ein Mist! Am liebsten hätte
der kleine Engel geflucht, aber das ging natürlich nicht. Schließlich war er ein Engel, wenn auch noch ein kleiner. Er versuchte, seine Haare mit den
Fingern zu entwirren, aber er war dabei nicht besonders erfolgreich. Mit der Bürste ging es auch nicht, und den Kamm hatte ihm der
Erzengel Michael weggenommen, weil er im Unterricht darauf geblasen hatte anstatt zu singen. Als gar nichts helfen wollte, beschloss
er, sich die Haare einfach so auf die Wickler zu drehen, wie sie eben waren: völlig zerzaust und vollkommen durcheinander. Ganz schön
schwierig war das, aber endlich hatte er zwei Dutzend Lockenwickler auf dem Kopf. Es wurde auch schon angenehm warm. Er warf einen Blick
in den Spiegel. Ziemlich seltsam sah das aus, aber wenn er erst die Wickler wieder heraus hatte, würde er bestimmt ganz wunderbare
Locken haben. Frohlocken eben. Er drehte die Sanduhr um und wartete.
Dreimal musste er die Sanduhr umdrehen, dann war es endlich so weit. Er griff sich den ersten Lockenwickler und öffnete den Verschluss. Aber was war das? Der Wickler ließ
sich nicht herausdrehen! Die verwuschelten Haare hatten sich vollkommen ineinander verheddert, und so sehr er auch daran zerrte –
es ging nicht. Er versuchte es mit einem anderen, aber auch der saß in dem zerzausten Haar fest und rührte sich nicht.
Auch der dritter Wickler nicht und auch nicht der vierte und der fünfte. Nach dem sechsten Wickler gab er es
auf. Er warf einen Blick in den Spiegel. Der Engel, der ihn darin nsah, hatte ein scheußliches Durcheinander aus Lockenwicklern und
verwuschelten Haaren auf dem Kopf. Nie im Leben würde er das wieder auseinanderbekommen. Da half wohl nur eins: die Schere. Er fühlte sich, als hätte jemand die
Luft aus ihm herausgepresst. Abschneiden, seine schönen langen Haare? Das würde ganz entsetzlich aussehen! Bestimmt würden die
anderen Engel ihn auslachen. Das habe ich nun davon, dachte er. Ich wollte Locken haben, Frohlocken noch dazu, und stattdessen werde ich
wie ein Igel aussehen. Er schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Igelhaare! Er weinte noch lauter. Lachen würden sie, mit dem Finger auf
ihn zeigen und ihm Spottnamen geben, und sie würden …
»Nanu, kleiner Engel«, sagte da plötzlich eine Stimme hinter ihm. Der kleine Engel drehte sich um. Da
stand Petrus vor ihm und lächelte ihn an. »Das sieht ja interessant aus, was du da auf dem Kopf hast. Sag nur, du hast dir das auch bei den kleinen
Menschen abgeschaut? Oh, ich weiß genau, dass du ihnen oft von oben über die Schulter siehst, wenn sie Instagram und Twitter anschauen.
Welcher Influencer hat denn das gepostet?« Da fing der kleine Engel wieder an zu weinen. »Ich wollte doch gar nicht … Ich habe noch nie … Ich
wollte nur …« Es dauerte eine Weile, bis der alte Himmelswächter die Geschichte aus ihm heraus hatte. »Auf Reisen wolltest du gehen?«,
fragte er erstaunt. »Auf Lobreise«, verbesserte der kleine Engel, nahm dankbar das Taschentuch an, das Petrus ihm reichte,
und putzte sich die Nase. Petrus runzelte die Stirn. »Lobreise?« »Na, so wie die Großen«, erklärte der kleine Engel. »Das steht auf dem Stundenplan, Frohlocken und
Lobreisen, bei Gabriel. Das wollte ich auch haben.« Der Mundwinkel des Alten zuckte, und es
war deutlich, dass er sich das Lachen nur mühsam verkneifen konnte. »Aha, daher also die Lockenwickler.«
Der kleine Engel nickte und senkte betreten den Kopf. »Und nun bekomme ich sie nicht wieder heraus«,
hauchte er. »Bestimmt muss ich mir die Haare abschneiden. Dann lachen die anderen über mich.« »Niemand wird über dich lachen«,
erwiderte Petrus und stupste den kleinen Engel sanft gegen die Schulter. »Schau mal, die Wickler lassen sich ganz leicht wieder
herausziehen.« Der kleine Engel hob den Kopf und schaute in den Spiegel. Auf seinem Kopf sah es noch genauso
durcheinander aus wie vorher. Aber als er zaghaft einen der Wickler anfasste, ließ er sich tatsächlich ohne Ziepen und Zerren
herausziehen. Vorsichtig holte der kleine Engel den Lockenwickler heraus, dann noch einen und noch einen. »Und nun schüttele mal kräftig den
Kopf«, sagte Petrus, als alle Wickler heraus waren. Der kleine Engel machte die Augen zu und schüttelte wild den Kopf wie ein Hund,
der gerade aus dem Wasser gekommen ist. »Sieh mal«, sagte Petrus hinter ihm, »was für schöne Locken du hast!« Der kleine Engel schaute in den Spiegel
und glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Da hatte er doch wirklich die schönsten Locken auf dem Kopf, die man sich wünschen konnte –
ganz wunderbare, frohe Locken. »Damit kannst du prima auf Reisen gehen«, meinte Petrus. »Das Christkind wird sich bestimmt freuen,
wenn du am Heiligabend sein Begleiter bist. Vorausgesetzt, du magst mit ihm auf die Erde reisen.« Der kleine Engel riss vor Staunen noch
weiter die Augen auf. »Ich darf das Christkind begleiten? Am Heiligabend?« Petrus lächelte. »Aber nur unter
einer Bedingung: Du gehst wieder zu Michael in deine Klasse und übst so lange Singen und Jubilieren, bis er dich zu den Großen versetzt.« »Das mache ich, ganz bestimmt«,
versprach der kleine Engel. »Vielen Dank, lieber Petrus!« Damit sauste er davon, um seinem Freund, dem kleinen Stern, alles zu erzählen.
Er sah nicht, wie der Engel Gabriel hinter einer Wolke hervorkam und zu Petrus trat. »Da hast du aber jemanden sehr
glücklich gemacht«, meinte er. Petrus lächelte. »War doch nur eine Kleinigkeit. Ein wenig himmlischer Geist, und die Lockenwickler fügten sich meinem
Willen von selbst.« Er schnippte mit den Fingern und die
herumliegenden Wickler verschwanden, einer nach dem anderen. Gabriel beugte sich vor. »Unter uns – ich glaube nicht, dass
der Kleine verstanden hat, was Lobpreisen bedeutet.« »Das macht nichts«, erwiderte Petrus. Sein Lächeln bekam einen verschmitzten Zug. »Das wird er
schon noch lernen. Michael ist zwar ein strenger Lehrer, aber auch ein guter. Und du bekommst in ein oder zwei Jahren einen besonders
eifrigen Schüler.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Gabriel und lächelte ebenfalls. »Fast so wie auf Weihnachten.«
Karola Briese
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Karola Briese
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Geboren und aufgewachsen in Berlin
(West), lebt Karola Briese mit Mann und Katze am Rande des Nervenzusammenbruchs und
der Lüneburger Heide. Zum Schreiben kam sie erst spät und
eher durch Zufall. Sie schreibt überwiegend historische Belletristik und Sachbücher,
daneben auch Kurzgeschichten.
Ihre Bücher signiert sie stilecht mit
Feder und Tinte, und wer Glück hat, erlebt sie einmal live bei einer
Lesung – stimmgewaltig und im authentischen Kostüm des 18. Jahrhunderts.
»Dragonerkind« ist ihr erstes Buch:
Was geschieht mit dir, wenn du mit 12 Jahren deine Familie verlässt, dich bewähren musst,
in einer fremden Welt, einem fremden Land mit einer fremden Sprache?
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Kontakt zur Autorin: A-Verlag
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